Perfekt trauern

Der folgende Gastbeitrag berührt mich einerseits durch die wunderbare Wortpracht, andererseits tief in meinem Herzen, da es auch Teil meiner eigenen Lebensspur ist, denn Marina und ihre Mama gehören zu meiner Familie. 2013 begann mit dem Tod meines Vaters, meine erste stark verändernde Erfahrung mit Trauer und im gleichen Jahr ist Marinas Mama gestorben. Ich sehe uns noch vor meinem inneren Auge, wie wir alle auf dem Friedhof standen und für mich spürbar wurde, dass Verlust, Abschied, neue Wirklichkeit, mehr und mehr Raum einnahm. Meine Familie wurde kleiner, Menschen, die gefühlt immer in meinem Leben da waren, wie eine  Art Versprechen – so wie Marina es auch beschreibt in ihren Zeilen – hinterließen plötzlich einen leeren Platz, unwiederbringlich. Danke liebe Marina, für deine Offenheit, dein Vertrauen!

Perfekt Trauern

Ganz offensichtlich gibt es kein perfektes Trauern, vermutlich würde sich auch niemand trauen einen solchen Begriff in den Mund zu nehmen. Aber es gibt ein sozial akzeptiertes Trauern, ein Trauern, dass ich in meiner Vorstellung meiner ganzen Umwelt zusprechen konnte, nur mir selbst nicht. Sozial akzeptiertes Trauern ist leise, schmerzhaft aber standhaft, elegant und zurückhaltend. Es schreit nicht auf, wird nicht mit an den Esstisch genommen und immer so subtil angebracht oder mit sich getragen, dass die Menschen in deinem Umfeld entscheiden können, wann sie sich damit beschäftigen wollen oder eben nicht.

Als meine Mutter starb war ich 18 Jahre alt und meine Trauer war weit entfernt von dem, was sozial akzeptiert war. Weit entfernt von dem, was für Außenstehende begreiflich war. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich eine Vorstellung in mir trage, was sozial akzeptiertes Trauern ist. Definitiv hat niemand jemals so etwas von mir verlangt oder gesagt. Doch meine gesamte Sichtweise auf meine Umwelt, die Summe der Reaktionen auf meine Trauer ließen mich lange glauben, dass sie etwas Unerhörtes und Unziemliches sei.

Jeder von uns trauert, wird trauern. Es gibt keine Abkürzung um dieses Gefühl und doch ist es immer noch ein Tabu, etwas das man flüstert und nicht schreit.

Aber ich wollte schreien. Und weil die Gesellschaft mich vermutlich als verrückt abgestempelt hätte, wenn ich meine Schreie ungefiltert ausgetragen hätte, fand ich hundert andere Wege nach innen und außen zu schreien. Trauer war damals und ist heute noch für mich in großen Teilen graue Leere bis hin zu roter, blinder Wut und Verzweiflung.

Meine Mutter erkrankte das erste Mal als ich circa zwölf Jahre alt war. Es war in diesem Alter das Offensichtliche ihre Krankheit aus meinen Gedanken zu verdrängen denn die endlose Stärke meiner Mutter ließ sie für mich unsterblich und unbezwingbar wirken. An dieser Vorstellung wollte ich festhalten. Der potenzielle Tod meiner Eltern war wie ein Schreckgespenst, beängstigend jedoch niemals nah an der Realität. Wenn ich Angst hatte, konnte ich meine Mutter jederzeit wecken, wenn mich etwas belastete konnte ich stets in ihren Armen weinen.

Ihre Sterblichkeit war so surreal, dass ich selbst damals mit zwölf an ihrem Krankenhausbett keine Sekunde daran zweifelte, dass sie überleben würde. Ich tat das, was ich immer tat, lehnte mich an sie, erzählte ihr von meinen Sorgen und sagte ihr, wie sehr ich sie zu Hause vermisste. Und mein naiver Glaube behielt Recht, sie kam zurück nach Hause und unser Leben ging seinen gewohnten Gang. Die Jahre zogen vorbei und bis auf die nun regelmäßigen MRT-Termine blieb meine Vorstellung von unserem Leben unverändert, zumindest auf der Oberfläche.

Einige Jahre später war ich in Avignon auf Kursfahrt. Als ich wiederkam holte mein Vater mich ab, ohne meine Mutter, was ungewöhnlich war. „Deine Mutter war die letzten Tage komisch“. So oder so ähnlich fing alles an. Waren es bei ihrer ersten Erkrankung Sprachfindungsstörungen, die durch den Tumor verursacht wurden, war diesmal ihr gesamtes Verhalten verändert. Doch sie war meine Mutter, sie war unantastbar, redete ich mir ein. Als alles zusammenbrach und die Antwort uns klar und deutlich auf einem MRT entgegensprang brach auch ich endlich zusammen. Es war wohl das erste Mal, dass ich merkte, dass ich wohl niemals perfekt trauern, perfekt Abschied nehmen würde.

Ich erinnere mich an die Krankenhausbesuche, als sie uns kaum mehr erkannte, die Klinik, es ist alles da. Ich erinnere mich nicht gerne. Ich wollte so gerne stark sein, Abschied nehmen, doch stattdessen rannte ich davon. Ich besuchte sie in fast jeder Mittagspause und musste den Raum nach fünf Minuten verlassen, weil ich es nicht ertragen konnte. Nicht ihre Stimme zu hören, sie nicht richtig umarmen zu können. Es war unerträglich. Ich fühlte mich so inadäquat in meiner Trauer.

Ich sprach mit ihr während sie schlief, ich versuchte meine Familie zu unterstützen, doch meine Wut ließ mich ungeduldig werden. Es machte mich so unendlich rasend, dass dies nun mein Leben, unser Leben war. Wie konnte sie mich verlassen, wie konnte sie einfach von heute auf morgen nicht mehr da sein. Ich versuchte zu Lächeln, den Schein zu wahren, stark zu bleiben doch alles in mir schrie danach wegzurennen. Ich wollte mein Bewusstsein vor der Realität verschließen, dass auch meine Mutter sterblich und endlich war. Denn wenn sie sterblich war, würde auch mein ganzer Schutzpanzer bröckeln, meine ganze Vorstellung in sich zusammenbrechen.

Als der Arzt uns sagte, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hatte, rannte ich weg. Raus aus der Wohnung, zu einer Freundin, nur um mich davon abzulenken, was mein Leben jetzt war. Ohne meine Mutter gefühlt so antastbar, bezwingbar und schonungslos verloren. Sie starb an diesem Abend und ich war imperfekt, ich war zu spät. Als meine Schwester anrief und sagte ich solle nach Hause kommen, fiel ich innerlich in mich zusammen. Ich wollte schreien, meine Wut kanalisieren. Es lief Musik als ich hereinkam und alles fühlte sich falsch an. Wie konnte Musik laufen, wie hatte ich nicht früher da sein können, wie konnte meine Mutter einfach tot sein. Ich hatte alles falsch gemacht, mein Abschied war nicht friedlich, elegant, würdevoll – er war chaotisch, rau und lähmend.

Ich konzentrierte meine Wut auf alles und schließlich auf mich selbst. Die Zeit danach war wie ein dichter Nebel. Wann immer ich jemandem von ihrem Tod erzählte, Freundinnen, Lehrern, konnte ich nicht weinen. Ich sprach es aus wie einen Fakt, etwas das ich loswerden musste, aber immer noch nicht selbst glaubte. Ich schaltete alles aus, bis auf meine Wut. Ich tröstete Menschen, denen es unangenehm war von dem Tod meiner Mutter zu hören, sagte immerzu, dass ich klarkäme, bloß niemanden Umstände machen, bloß nicht aus dem Raster des sozial akzeptierten Trauerns fallen. „Was macht deine Mutter beruflich?“ „Was wird deine Mutter zum Abiball tragen?“ „Meine Mutter hat letztes Jahr ihren Brustkrebs besiegt.“ – „Oh, das tut mir leid.“

All die Menschen um mich behielten in meiner Vorstellung ihre Haltung, trugen sich mit so viel Würde und Eleganz durch diese Zeit. Wie hätte ich sie enttäuschen können, ich hatte schon genug angerichtet indem ich weggerannt war. Um 10 Uhr schrieb ich meine Geschichtsklausur, um 13 Uhr stand ich auf dem Friedhof und warf zu ihrer Beerdigung Blumen in das Grab meiner Mutter. Ich konnte keinen Ton sagen, nicht ein Wort singen, weil ich die gesamte Zeit weinte und schluchzte und nicht wusste, wie ich mich zusammenhalten würde. Ich hatte weder meinen Partner, noch Freunde zu der Beerdigung mitgebracht und fühlte mich unabhängig von der Präsenz meiner Familie so isoliert, so alleine trauernd in meiner Außenwelt während ich versuchte an meinem alten Leben festzuhalten.

Ich packte meine Trauer in eine Box, und dort wartete sie wie eine tickende Zeitbombe zu explodieren. Sie wollte gefühlt werden, doch in meinen Augen hatte ich nicht die Mittel sie so in die Welt zu tragen, dass niemand zu Schaden kommen würde. Also lieber stumm implodieren. Denn wie soll man der Gesellschaft erklären, warum man weint wenn dein Essen anbrennt, deine Thermoskanne zerbricht, mitten im Unterricht, mitten auf den Partys, der lockeren Zeit mit meinen Freunden. Meine Trauer zeigte sich auf so vielfältigen Ebenen, dass es schwer war sie noch als Trauer zu identifizieren, selbst für mich. Alles fühlte sich falsch an, ich fühlte mich so unendlich falsch an.


Ich wünschte mir hätte damals jemand immer wieder gesagt, dass es okay ist nicht perfekt zu trauern, dass es okay ist, dass Trauer auch Chaos bedeutet, dass es okay ist, wenn ich zusammenbreche und dass ich mich nicht um die Befindlichkeiten der Außenstehenden kümmern muss, sondern erstmal um meine eigenen. Es ist okay auseinanderzufallen, wenn deine ganze Welte auseinanderbricht. Und vielleicht fühlt sich alles so unendlich falsch an, weil der Raum fehlt so zu trauern, wie man trauern möchte, wie man trauern muss. Vielleicht ist alles so schmerzhaft, weil wir diesen so natürlichen Bestandteil unseres Lebens hinter verschlossene Türen und in kleine Boxen packen als wäre es nicht eine der größten und menschlichsten Emotionen, die es gibt.

Trauer ist so ein Tabuthema in unserer Gesellschaft, dass man kontinuierlich als Trauernde versucht den Abgrund zum Rest der Welt zu überbrücken, um nicht den Anschluss zu verlieren. Für mich bedeutete das Emotionen wegzudrängen, Menschen zu beschwichtigen und so zu tun als sei ich wie die ganzen anderen 18-jährigen, deren Eltern noch beide lebten. Wie sehr ich es mir wünschte, dass jemand die Hand ausstrecken und mich in meiner Trauer so annehmen würde, wie ich war. Mit all meiner Wut, mit all meiner Scham über mein unperfektes Trauern, dem Bedürfnis über meine Mutter zu reden, dem Bedürfnis wegzurennen und glücklich zu sein, den Schuldgefühlen, wenn ich ihren Tod auch nur für wenige Zeit verdrängte, mit meiner dünnen Haut, meinen Panikattacken, der riesigen Angst vor Krankheiten und davor Menschen zu verlieren, meinen riesigen unendlichen Emotionen.

Trauer darf alles sein. Laut und leise, hässlich und schön, aufgeräumt oder absolut chaotisch und alles dazwischen. Trauer war damals und ist heute noch für mich in großen Teilen graue Leere bis hin zu roter, blinder Wut und Verzweiflung. Doch auch Friedlichkeit und eine gold-warme Umarmung, die sich um mich legt, wenn ich mich mit ihr versöhne. Vielleicht sollten wir uns davon verabschieden perfekt oder sozial akzeptabel zu trauern, vielleicht sollten wir stattdessen als Gesellschaft anfangen menschlicher zu trauern, in all unseren Facetten, in all den mikroskopischen Momenten unseres Lebens und unserer Gefühle.

Marina

One Response

  • Liebe Marina,
    deine Beschreibung kann ich mit vollem Herzen nachvollziehen. Trauer ist mit das stärkste Gefühl, das wir Menschen empfinden können. Sie kann zerreißen, beschweren, uns lähmen, uns aber auch mit uns versöhnen. Wut kenne ich, dunkelrote Gefühle kenne ich. Verlust kenne ich. Wie fast alle Menschen. Du hast es sehr direkt auf den Punkt gebracht, was du fühlst. Dafür danke ich dir von Herzen!

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