Eine, nur scheinbar, einfache oder kurze Frage zu einer sehr komplexen Thematik.
Hier der Versuch einer Annäherung an eine Antwort.
Aus meiner ganz persönlichen Sicht und zum jetzigen Zeitpunkt.
Achteinhalb Jahre nach dem Tod meines Sohnes Max.
Die Trauer ist da.
Selbstverständlich! – Auch heute.
Die Trauer ist weder „verarbeitet“ noch verdrängt.
Sie ist mein ständiger Begleiter. Immer. Ja, wirklich immer!
Ausgelöst durch ein Bild, einen Geruch, ein Lied, wiederkehrende Gedanken oder zufällige Gespräche oder Begegnungen wächst die Trauer immer wieder einmal, von dem Maß, auf das wir uns seit einiger Zeit geeinigt haben – manchmal überfallartig oder auch langsam aufsteigend – auf eine lähmende und alles einnehmende Größe heran. Und erst nach der unumgänglichen Betrachtung meiner Trauer, also dann, wenn sie die so nachdrücklich geforderte Aufmerksamkeit erhalten hat, kehrt sie zur zugestandenen Größe zurück. Auf diese Art und Weise verschafft sich die Trauer zusätzlichen Raum und weht wie ein Luftzug, ein Durchzug durch alle Räume.
Meine Trauer ist wie ein Haus. Ein Haus mit vielen Räumen, hellen und dunklen Zimmern, einem tiefen Keller und lichtdurchflutetem Innenhof. Alle Räume dieses Hauses tragen einen Namen. In einem wohnt die Liebe, ein großer Raum bewohnt die Sehnsucht, gleich daneben dann die Traurigkeit und im Keller, da wohnt meine Angst. Die Erinnerung durchzieht das ganze Haus als Treppe oder Flur. Alle Räume sind unverschlossen, obwohl der Schlüssel griffbereit in jeder Türe steckt und so betrete ich immer wieder jeden einzelnen Raum mit unterschiedlichen Gefühlen um ihn dann auch wieder zu verlassen.
Und beim Hinaustreten nehme ich aus jedem Zimmer etwas mit auf jedem meiner Wege. Meine Wege führen mich wieder zu Freunden, ins Theater, auch bin ich auf Reisen. Ganz bewusst kann ich sagen: Ich bin mehr als meine Trauer! Auch wenn meine Trauer mein steter Begleiter ist – zuhause und unterwegs.
Und weil ich mehr bin als meine Trauer bestehe ich auch darauf, dass man mir meine Trauer lässt, so, wie man mir auch andere Dinge lässt, die fest und auf immer zu mir gehören. Denn meine Trauer ist eine unlösbare Verbindung zu meinem Sohn. Lebenslang. Unverhandelbar.
Trauer sucht sich ihren Raum, den Platz im eigenen Leben. Trauer sucht sich ihre Zeit. Diese Trauerzeit beschreibe ich – aus der Erkenntnis vieler Erfahrungen – als Stunden außerhalb der Zeit. Immer wieder war es so, dass die Trauer die Zeit vergessen ließ, man könnte auch sagen überwunden hat. Das lange Warten am Todestag, bis wir unseren Sohn sehen konnten, um im wahrsten Sinne des Wortes seinen Tod zu begreifen. Das stundenlange Kondolieren der Trauergäste auf dem Friedhof anlässlich seiner Bestattung, wertvolle Zeit, die scheinbar wie im Fluge vergangen ist. Die Sehnsucht nach ihm und seinem Wesen und die immer wieder-kehrende Frage, wie er wohl heute aussehen würde, mit der man sich stundenlang beschäftigen kann – eine Ewigkeit lang….
All diese Erkenntnisse, die ich mühsam und schmerzhaft in schlaflosen Nächten und durchweinten Tagen erlangt habe, helfen mir, mit meiner ganz persönlichen Trauer umzugehen. Helfen mir dabei zu Schreiben und auch auf anderen Wegen dieser Trauer Ausdruck zu verleihen.
Meine Trauer hat einen festen Platz in meinem Leben.
Sie hat unterschiedliche Intensitäten und Ausdrucksformen,
die ich weder erklären noch rechtfertigen möchte – ich lebe sie.
Ich lebe – mit dem Tod meines Sohnes.
Auf meinem Weg – so gut es mir eben möglich ist.
Diese Erkenntnis und die mit der Zeit erlangte Erfahrung hilft mir in meiner Trauer!