Wir sind dankbar über einen erneuten Gastbeitrag. Anke und ich sind uns bei einer Weiterbildung zur Trauerbegleitung begegnet. Wie so oft, gab es auch bei diesem Seminar zu Beginn eine Vorstellrunde, das erste Kennenlernen. Als Anke von sich und ihrem Leben erzählte, hörte ich den einen Satz, der mich unmittelbar zutiefst mit ihr verbunden hat, auch sie hatte einen Sohn verloren. Im Grunde kannten wir uns noch nicht und doch spürten wir beide direkt eine Vertrautheit – zwei Mütter – zwei Herzen, mit der gleichen Wunde, durch den Tod eines Kindes, trotz der unterschiedlichen Lebenswege, fühlen wir diese berührende Gemeinsamkeit.
Und doch bleibt nur die Liebe!
Als wir, mein Mann und ich, im Jahr 1992 unsere Zwillingsbuben erwarteten, war das eine riesige Freude! Wir hatten schon einen zweijährigen Sohn und nun sollte er noch zwei Brüderchen bekommen. Nach der zu frühen Geburt wurde bald klar, dass einer der beiden durch Sauerstoffmangel beeinträchtigt sein und kein „normales“ eigenständiges Leben führen würde. Nach dem großen Schreck und vielen Tränen nahmen wir die Situation an. 2008 verstarb Leif Ole….doch zuerst gehen meine Gedanken zurück zu dem, was wir mit unserem Sohn gelebt und erfahren haben…
Ich wurde nicht gefragt, ob es mir recht ist, ein behindertes Kind zu bekommen. Und doch hieß es plötzlich mit der neuen Situation umzugehen, den Schmerz auszuhalten und die Gegebenheiten anzunehmen wie sie sind. Warum wir, warum ich? – Das haben wir uns nicht oft, aber doch immer wieder mal gefragt. Können wir als Eltern all das leisten, was die neue Lebenssituation uns abverlangt, reichen unsere Kräfte, halten es Freunde und Familie mit uns aus?
Leif Ole, er kann nicht sehen, nicht laufen, nicht frei sitzen, nicht alleine essen, nicht alleine spielen und nicht sprechen. Er isst, indem ich ihm mit viel Zeit geduldig sein Essen anreiche. Er liebt es lange und ausgiebig im Rollstuhl spazieren gefahren zu werden. Er sitzt auf meinem Schoß oder in seiner für ihn angefertigten Sitzschale. Er sieht und versteht dadurch, dass ich ihm erzähle und beschreibe, was ich sehe und fühle. Im Grunde genommen lebe ich dadurch zwei Leben. Und er kommuniziert mit mir auf seine eigene Art und Weise und ich hoffe dabei immer, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu verstehen.
Zu seiner körperlichen und geistigen Behinderung kommen noch Krankheiten hinzu. Er leidet an Epilepsie, die durch Tabletten gelindert, aber nicht geheilt werden kann. Seine ausgeprägte Spastik erschwert den Umgang mit ihm sehr. Durch den Bewegungsmangel einerseits und seine spastischen Überstreckungen andererseits kommt es zu Fehlstellungen seiner Knochen und Gelenke, die im Laufe der Zeit plötzlich brechen könnten. Seit einiger Zeit leidet er auch an massiven Atemschwierigkeiten und plötzlichen Erstickungsanfällen, die mir immer wieder schlaflose Nächte bereiten, da ich in ständiger Angst lebe, unser Kind zu verlieren.
Hinzu kommen die Sorgen um seine Zukunft, wie es nach der Schulzeit weitergehen soll. Welche Einrichtung zumindest teilweise das leisten kann, was sich jeder für sein Kind wünscht: Eine adäquate Förderung, die seine individuellen Fähigkeiten berücksichtigt, auf seine Behinderungen und vor allem seine Blindheit Rücksicht nimmt?
Zukunftsängste machen sich da schon manchmal breit. Die Gegenwart wiederum lässt wenig Zeit, denn es gilt, sich um Krankengymnastik, Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, behindertengerechte Ausstattung der Wohnung und des Autos und die ganze Flut von Anträgen, Formularen und – wenn erforderlich – Widersprüchen zu kümmern.
Und da sind ja auch noch die Geschwister, die Raum und Zeit brauchen und auch die Partnerschaft darf nicht vernachlässigt werden. Daneben dürfen auch die eigenen Wünsche nicht ganz zu kurz kommen, um nicht in Selbstaufgabe zu verfallen und immer wieder Kraft zu tanken und den täglichen Herausforderungen gewachsen zu sein.
Bei all diesen Überlegungen bekomme ich dann doch noch eine Antwort auf die Frage, warum gerade unsere Familie mit einem behinderten Kind beschenkt wurde: Weil er bei uns gut aufgehoben ist, weil er uns mit Liebe erfüllt und wir das Lachen trotzdem nicht verlernt haben. Weil wir wissen, wofür wir leben, was Ignoranz, Egoismus, Neid und Vorurteile bei anderen Menschen bewirken und dass wir uns darüber hinwegsetzen können.
Und dann kam der Moment, der im Inneren eine stetige begleitende Angst war.
2008 war von heute auf morgen alles anders: 15 Jahre – so alt durfte unser mehrfach schwerstbehinderter Sohn Leif Ole werden. Mein Leben voller Liebe und Fürsorge für unseren Sohn änderte sich vollkommen. Leif starb unerwartet im Beisein seiner geliebten Oma.
Worte können nicht beschreiben, wie sehr Leif mir und all jenen fehlt, die ihn gekannt, geliebt und geachtet haben und wie sehr es uns berührt, dass es auch heute, nach so vielen Jahren, noch Menschen gibt, die an uns und Leif denken, mit uns trauern und ihn vermissen.
Oft haben wir danach gehört, „es war doch gut so, ihr hattet es doch so schwer, jetzt könnt ihr ein normales Leben leben …“ und dergleichen. Das hat mir unendlich weh getan, und ich fühlte mich nicht wahrgenommen als trauernde Mutter die ein Kind verloren hat. Mittlerweile erwähne ich nur noch selten, dass Leif schwerstbehindert war. Die Menschen reagieren dann anders. Froh und dankbar bin ich für jeden, der über ihn spricht, mich wahrnimmt als ein Elternteil, die ein geliebtes Kind verloren hat. Losgelöst davon, dass er anders, einfach besonders war.
Leif hat unsere Herzen berührt und unsere Welt bereichert. Er hat geradezu Herzen gesammelt, all denjenigen bleibt seine Nähe stets spürbar. Wir alle denken in Liebe an Leif, er wird immer in unseren Herzen und Seelen sanft gehalten sein.
Anke Schroeder