Der nachfolgende Text ist als Beitrag für die Jahres-Zeitschrift „Memento“ des Vereins „Trauernde Eltern und Kinder Rhein-Main“ entstanden. Im Verein sind wir seit sechs Jahren Mitglieder und nutzen die zahlreichen Angebote und unterschiedlichen Veranstaltungen.
Das diesjährige Thema der „Memento“ „Du bist nicht allein“ haben wir um ein Fragezeichen ergänzt und möchten das allzuoft und immer wieder entstehende Gefühl der Einsamkeit, das überfällt, lähmt, bedrängt und im akuten Fall absolut ausweglos daher kommt, erst einmal als Frage formulieren:
Du bist nicht allein?
Und als Frage liest sich dieser Satz ganz anders und würdigt viel mehr die Zweifel, die man in seinen unterschiedlichen und eben auch einsamen Lebenssituationen immer wieder hat.
Als unser Sohn Max an einem Sonntag verstarb hat es nur Minuten gedauert, bis sich das Unglück in unserem kleinen Ort herumgesprochen hat. Viele kamen unmittelbar zum Kondolieren und um uns beizustehen. Unsere Küche war stets gut besetzt und die Kaffeemaschine im Dauerbetrieb. Wir haben gemeinsam geweint, beklagt, geschwiegen – getrauert. Trauer braucht diese Resonanz, die eine Gemeinschaft geben kann. Die ganze Woche, die es dann bis zur Beerdigung mit Trauerfeier am darauffolgenden Freitag gedauert hat, gab es zahlreiche Besuche. Freunde sind angereist und die überwältigende Besucherzahl der Trauerfeier, die nicht enden wollende Schlange von kondolierenden Trauergästen war ebenso anrührend wie tröstlich. Unser Umfeld ging in Handlung – wir waren nicht allein. Schlimm schön!
Am darauffolgenden Tag haben meine Frau Sylvia und ich nach einem sehr wertvollen gemeinsamen Frühstück in unserem Haus, die angereisten Freunde und Familie alle (!!) wieder verabschiedet. Das Haus war nun leer, sehr leer! So leer wie nie zuvor. Wir selbst fühlten uns einsam, verlassen, ebenso leer wie unser Haus.
Auch in der folgenden Zeit erfuhren wir noch viel Unterstützung, Beistand und aktive Hilfe durch Freunde, Nachbarn und Familie. Diese Unterstützung, das haben wir erst im Vergleich und durch Schilderungen anderer verwaister Eltern erfahren, hat verhältnismäßig lange angedauert. Doch schon im Verlauf dieses ersten Jahres, in dem man uns gehalten und getragen, begleitet und zugehört hat, bemerkten wir bereits deutliche „Absetzbewegungen“!
Mit der Zeit gingen Freunde, Familie, Nachbarn wieder in „ihr eigenes Leben zurück“, das ihnen – um unsere bittere Erfahrung reicher – geblieben war. Sie konnten in ihr Leben zurückkehren. Nur für uns, für uns gab es eben kein Zurück. Trotz aller Unterstützung bleibt es eine Tatsache, dass niemand sein eigenes Leben aufgeben kann, um Trauernden dauerhaft beizustehen. Jeder kann nur sein eigenes Leben leben. Wir fühlten eine große Verlassenheit, Einsamkeit, da wir in unserem Freundes und Bekanntenkreis die einzigen Eltern waren, die um ein verstorbenes Kind trauerten. Dieses Gefühl ist weder erklär- noch vermittelbar. Nicht-Betroffene können, wollen und letztendlich sollen sie, soll niemand dieses Gefühl erleben müssen. Doch wir hatten das immer stärker werdende Bedürfnis, dass man uns und unsere Gefühle versteht, dass wir uns mitteilen können und in einen wirklichen Austausch zu diesem Thema gehen können. Dies war für uns letztendlich Antrieb in Handlung zu gehen.
In unserem eigenen Leben kannten wir uns nicht mehr aus. Alles musste nach dem Tod von Max neu gedacht werden. Werte und Prioritäten verschoben sich. Wo ist der eigene neue Platz, wenn sich elementare Dinge verändern, Gewichtungen verschieben? Was ist das, die neue Normalität? Und das alles geschieht gefühlt gleichzeitig und gepaart mit dem Wunsch und der Hoffnung der Freunde und Familie, dass man doch bitte wieder zurückfindet in sein altes Leben und wieder so wird, wie man vor dem Tod des Kindes war. Es schien so, als ob niemand außer uns selbst, die unglaubliche Unmöglichkeit dieses Gedankens begriff. Ein Gefühl der tieftraurigen Einsamkeit.
Ein Jahr nach dem Tod unseres Sohnes Max haben wir erstmals die offene Trauergruppe des Vereins „trauernde Eltern und Kinder“ in Mainz besucht. Unsicher, zweifelnd, verletzt, einsam. So unterschiedlich die Menschen in der – erst noch offenen – Trauergruppe auch waren und in unserer aktuellen Gemeinschaft auch noch sind, es eint uns diese schmerzhafte Erfahrung des Verlustes eines geliebten Kindes und die Veränderungen, die sich daraus für den Rest des eigenen Lebens ergeben.
Unser ursprünglicher Freundes- und Bekanntenkreis hat sich mit der Zeit ausgedünnt, Menschen haben sich von uns abgewandt und dafür haben wir unterschiedliche Motive ausmachen können. Einige wertvolle (und belastbare!) Kontakte halten bis heute, „Bekannte“ von früher zeigen sich angesichts unserer Geschichte ganz neu und sind zu Freunden geworden. Neue Freunde und Bekannte sind in unser Leben getreten, die uns nur mit „unserer Geschichte“ kennen. Doch es gibt eine Grenze die diese beiden Kreise der Trauernden und (Noch-) Nichttrauernden voneinander trennt: in der Trauergruppe des Vereins haben wir eine neue, wichtige, bis heute tragende Gemeinschaft und auch neue Freunde gefunden, mit der wir unser Schicksal teilen. Es ist eine Vertrautheit entstanden, deren Austausch die Resonanz bietet, die in unserer Trauer weiterhin wichtig ist. In der Trauergruppe ist mit seiner Trauer keiner allein.
Der für uns so wichtige Austausch mit Gleichgesinnten über Erfahrungen, Hoffnungen und Lösungsansätze hat bei uns auch dazu beigetragen, unser eigenes Sein und Handeln zu reflektieren und uns selbst besser zu verstehen. Wir mussten mit Hilfe der Unterstützung der Trauergruppe uns und unsere neue Normalität erst selbst kennenlernen, bevor wir für unser Umfeld dadurch wieder greifbarer und verständlicher, klarer werden konnten.
Das Gefühl der Einsamkeit und des Alleinseins wird uns weiterhin immer wieder einmal überfallen. Dies kann in einem überfüllten Park ebenso der Fall sein, wie z.B. bei einer Familienfeier. In den sieben Jahren seit dem Tod von Max ist bei uns zudem die Gewissheit entstanden, dass wir mit unserem Schicksal nicht alleine sind, dass es Angebote und Unterstützungen von Selbsthilfegruppen, Therapeuten, Vereinen, neuen Freunden und zugewandten Menschen gibt, die uns eine Zeit lang hilfreich zur Seite stehen. Dass durch den massiven Eingriff und den Wandel, den der Tod unseres Kindes bewirkt hat zahlreiche Änderungen in unserem Leben stattfinden, Familie und Freunde „anders funktionieren“ wie vorher, müssen wir dabei notgedrungen akzeptieren. Wir wollen aber immer wieder aufs Neue in Handlung gehen, Wünsche äußern, Unterstützung und für uns passende Angebote annehmen. Unser Leben müssen wir weiterhin alleine und für uns selbst leben, so anstrengend und kraftraubend das in unserem speziellen Fall als verwaiste Eltern mitunter auch ist.
Unsere Kinder – ob lebendig oder verstorben – werden bis zu unserem letzten Atemzug in unseren Herzen sein.
Wie also können wir nun, die anfangs durch die veränderte Zeichensetzung entstandene Frage für uns passend beantworten? Aus eigenem Erfahren sagen wir: Gefühle der Einsamkeit werden immer wieder entstehen, jedoch alleine sind wir nicht! Andreas Hey