Wir freuen uns über einen neuen Gastbeitrag. Mirja habe ich im Internet über die Trauerplattform „Trosthelden“ kennengelernt. Durch unseren Austausch haben wir so manche Gemeinsamkeit festgestellt, jedoch auch wahrgenommen, wie unterschiedlich Trauerwege verlaufen und welche Schritte jeder für sich individuell gehen kann und möchte. Herzlichen Dank für diesen zweiten Gastbeitrag!
Die Trauer ist auch mein täglicher Begleiter und ihr Gewand ändert sich je nach Stimmungslage und Reizüberflutungen von außen. Ich habe meinen Sohn (23) im vergangenen Jahr verloren… und es geschah von heute auf morgen.
Die ersten sechs Monate war ich wie in einer Art Schockstarre gefangen, die es mir wahrscheinlich auch nur ermöglichte, zu funktionieren und meinen Alltag zu bewältigen. Ich fühlte mich wie in Trance, wie betäubt, so, als hätte man mir den Lebensstecker gezogen. Jeder Handgriff, jede Begegnung, jedes Gespräch, jeder „unsinnige“ Einkauf fühlte sich dumpf an, so als wäre ein Vorhang zwischen mir und der Außenwelt gezogen worden. Ich war wie in einen Nebel gehüllt. Immer mit großem Abstand zu dem, was ich gerade tat oder mit wem ich gerade sprach. War ich das, die gerade agiert oder war ich nur ein Schatten meiner selbst? Ich lebte nicht, sondern wurde gelebt, mein tägliches Procedere wurde von einem Autopiloten gesteuert. Nur in meinen vier Wänden ließ ich los, konnte ich die selbst auferlegte Maske fallen lassen und meiner verletzten Seele Raum geben.
Am Schlimmsten waren die behördlichen Formalitäten, die per Post ins Haus flatterten und mir das Unfassbare noch einmal Schwarz auf Weiß dokumentierten. Ich wollte es nicht wahrhaben. Und dann die teilweise seelenlosen Kondolenz-Schreiben, die einhergingen. Ich konnte genau herausfiltern, welche Beileidsbekundungen aufrichtig waren und Tiefe hatten und welche nur formellen Charakter. Ich fühlte mich attackiert von außen und brauchte unglaublich viel Kraft, um mit der neuen Situation, die ich noch gar nicht verinnerlicht hatte, fertigzuwerden bzw. diesen Ist-Zustand langsam anzunehmen. Ich war gespalten. Ich wusste,
dass ein Teil von mir mit ihm gegangen ist, und der andere Teil nahezu verzweifelt versucht, wieder in die vertrauten Fußstapfen des alten Lebens zurück zu gelangen. Aber, das vertraute Fundament, der Boden, der mich all die Jahre hindurch getragen hat, in engster Verbindung zu meinem Sohn, der ist plötzlich weggebrochen. Der stabile Untergrund verwandelte sich von einer auf die andere Sekunde in weichen, grifflosen Sand, der mich taumeln ließ.
Ich stürzte ins Bodenlose.
Mit der Zeit lernte ich wieder zu laufen, ganz langsam. Ich bewegte mich zaghaft aus meinem Schneckenhaus hervor – und spürte, dass sich alles ganz anders anfühlte… gezeichnet von dem Tod. Ich wusste, dass ich langfristig nur zwei Möglichkeiten hatte: entweder gehe ich nach vorne, wachse über mich hinaus und wandele den Schmerz in Neues um oder ich ziehe mich zurück, erstarre, lecke meine Wunden und sterbe innerlich.
Nein! Jetzt erst recht nicht. Ich bin eine Kriegerin – und gehe nach vorne. Auf einmal zeigte sich wieder diese Urkraft in mir, das Verlangen, zu neuen Ufern zu starten. Für mich, für meinen Mann, für meine Tochter und mein Enkelkind. Ich plante mit meinem Mann ein neues Zuhause. Von heute auf morgen haben wir alles in Bewegung gesetzt, unser Traumhaus im Grünen zu finden mit einem verwunschenen Garten, der Raum für die Trauer lässt und wo wir ungestört sind, unsichtbar für andere.
Und tatsächlich, haben wir „zufällig“ oder wie das Schicksal es wollte, ganz schnell, wie für uns gemacht, unser Traumhaus gefunden, dass wir seit einem Jahr sanieren. Dieser Umbruch tut mir gut, ich musste mich mit Handwerkern und Baumaßnahmen beschäftigen, habe Kontakt zu neuen Menschen bekommen, die mich weder vor dem Unglück kannten, noch meine Geschichte kennen. Das hilft mir sehr. Ich lebe jetzt ein neues Leben… und auch wenn meine Trauer und mein Schmerz immer Teil von mir sind, so verändert sich ihr Gewand
täglich. In der Stille und meditativen Ruhe unseres neuen Zuhauses hat meine Trauer ein neues Gesicht bekommen… denn alles ist Energie – und durch den wunderschönen Rahmen inmitten der Natur fühle ich mich gestärkt, das Unfassbare aushalten und leben zu können.
Mit halb weinendem und halb lachendem Auge.
Mirja Bloom.